Talentwerkstatt Babyschrei
Für die meisten Eltern ist es schwer vorstellbar, dass es eine Phase im noch kurzen Leben ihrer Kinder gegeben hat, in der ihre Sprösslinge aufmerksame Zuhörer waren.
Fest steht heute, dass im letzten Schwangerschaftsdrittel insbesondere die Sprache der Mutter mit ihren spezifischen Betonungsmustern vom Ungeborenen bereits detailliert aufgenommen und analysiert wird.
Der Vergleich von Tonbandaufnahmen schreiender deutscher und französischer Babys im Alter zwischen zwei und fünf Tagen hat dann auch tatsächlich gezeigt, dass der akustische Input, den die Babys im Uterus wahrnehmen, schon wenige Tage nach der Geburt genutzt wird und sich die Neugeborenen deutlich auf ihre Zielmuttersprache einstellen. Bei den deutschen Babys gibt es in der Schreimelodie eine abfallende Kurve, die Franzosen hingegen schreien ansteigend. Typische Kurven für die jeweilige Sprache.
Der Sprachlernprozess beginnt also sofort nach der Geburt, und nicht erst mit dem ersten „mam-mam-mam“ oder „ba-ba-ba“. Die deutlichen Schreie, die für Hunger, Unzufriedenheit oder Sehnsucht stehen, beinhalten Melodiemuster, die als Bausteine für die darauf folgenden Lautproduktionen fungieren.
Könnte dies ein auf Sprache basierender Trost für nervengeplagte Eltern sein, die oft stundenlang tiefe Spuren in den Wohnzimmerteppich laufen und so versuchen, ihr schreiendes Baby zu beruhigen, die kilometerweit Auto fahren und die Wochenenden in der Schreiambulanz verbringen? Unsere Babys sind wahre Stimmexperten mit einem unglaublichen Repertoire an melodisch-rhythmischen Variationen. Wenn uns diese Tatsache so sehr mit Stolz erfüllen könnte wie das erste „Winke-Winke“ oder das erste Geschäft auf dem Töpfchen, so könnten wir als moderne Eltern sicherlich eine ganz neue Einstellung zu den Schreien unseres Babys finden. Sprachliche Talente können entdeckt und erste Kurse für spätere literarische Tätigkeiten gebucht werden. Eltern mit schreienden Babys sind nicht mehr peinlich berührt sondern vergleichen die Schreie der eigenen Brut mit denen der anderen Säuglinge. Welch ein Bild.
Möglich – aber eher unwahrscheinlich.
Christine Wolter
staatl. gepr. Übersetzerin
Korrektorat & Texte