Radio-Welt
Gefährdetes Kulturgut
Einige von euch werden Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern erinnern, die von langen Nachmittagen vor dem Radio handeln, in der warmen Küche, vielleicht mit Kohle- oder Brikettofen. Hörspiele sollten für Unterhaltung am Sonntag sorgen, oft saß sie ganze Familie zusammen vor dem Radiogerät und folgte den Geschichten und Berichten. Vielleicht wurde dabei gestrickt oder genäht, Schuhe repariert oder Kartoffeln geschält. Aber vor allem wurde zugehört. Wer macht das heute noch? Hat noch jemand von euch eine Lieblings-Radiosendung? Ein Kollege von mir verpasst fast nie den „Spreeblick“, eine kulturell hochinteressante und sehr gut gemachte Sendung, die Arbeiterpriester, Netzwerkaktivistinnen, Feministinnen, Filmemacher, Verlags- und Gruselbunker-Chefs, Krisengebietsreporter, Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler und Kabarettisten zu Gast hat und Interviews in ihrer besten Form bringt. Bei anderen wiederum wächst der Berg Bügelwäsche nie wirklich an, weil sie einmal die Woche einem Hörspiel im Radio folgen und dabei gleichmäßig über die Hemden bügeln. Radio muss auf Bilder verzichten, vielleicht liegt darin eine der Anforderungen, denen sich Radiomacher stellen müssen. Ich selbst hatte mal das Glück, bei einem kleinen spanischen Lokalsender ein wöchentlich stattfindendes Programm mitgestalten zu dürfen, eine Art „Kommunikationswerkstatt“. Es ging um Kommunikation im weitesten Sinne. Als wir das Thema „Körpersprache“ beleuchten wollten, also Mimik und Gestik, war ich sprachlich über alle Maßen gefordert. Wer Radio machen will, muss sich auf seine Sprache und Stimme verlassen können. Der Funke muss überspringen, sonst hört niemand zu. Unsere Ohren sind mittlerweile verwöhnt, die Radiosendungen unserer Großeltern würden uns vielleicht nicht mehr fesseln können. Das war Radio in seiner reinsten Form. Da wurden noch keine schlüpfrigen Späße gemacht und der technische Background ließ keine schnell gemachten Berichts-Collagen und Musik auf Knopfdruck zu. Ich kann an dieser Stelle nur jedem empfehlen, auf die Suche nach guten Radiosendungen zu gehen. Denn es muss nicht immer schlechtes Fernsehen sein.
Christine Wolter | staatl. geprüfte Übersetzerin und Dolmetscherin | Korrektorat & Texte