Kiezdeutsch rockt – Ischwör!
Gestern in einer Hamburger S-Bahn.
Mir gegenüber saß ein Mädchen im Teenie-Alter und telefonierte. Sie sprach Deutsch. Glaube ich. Da ich aufgrund meiner Profession auf Sprache fixiert bin, habe ich mich nicht bemüht, wegzuhören. Und ich war beeindruckt. Das Sprechtempo hätte jede mühsam erlangte Fähigkeit des Simultan-Dolmetschens aus den Angeln gehoben, Sprachmelodie und Akzentuierung im Satz verwirrten mich zutiefst. Verstanden habe ich nichts. Nonverbale Aktionen sagten mir jedoch, dass das Verhalten eines Typs nicht mit den Erwartungen des Mädchens im Einklang stand. Mit welchen Begriffen die atmosphärischen Störungen zwischen den beiden ausgedrückt wurden, kann ich nicht einmal im Ansatz wiedergeben. Gerne hätte ich Mitreisende gefragt, ob sie auch nichts verstehen, aber die waren ebenso am Telefonieren.
Wieder im Büro habe ich mich daran gemacht, im Netz auf Personen zu stoßen, die eine ähnliche Erfahrung wie ich gemacht haben. Treffer! Ich bin nicht allein! Schwierigkeiten im Sprachenpaar Deutsch-Deutsch scheinen weit verbreitet zu sein. Das lässt mich an einen Artikel denken, den ich jüngst in einem Übersetzerblatt gelesen habe und der darauf hinweist, dass immer mehr Übersetzer für Deutsch-Deutsch gesucht werden – allerdings hinsichtlich Übersetzungsarbeiten in die „einfache Sprache“; also die Verwandlung komplizierter Texte in weniger komplizierte, verständlichere Texte. Vielleicht gibt es auch bald Übersetzer Kiezdeutsch-Deutsch? Denn Kiezdeutsch ist der offizielle Begriff für moderne Jugendsprache, welcher vom Lehrstuhl für deutsche Gegenwartssprache der Universität Potsdam ein eigenes Infoportal gewidmet wurde (kiezdeutsch.de). Prof. Dr. Heike Wiese, die diesen Lehrstuhl bekleidet, spricht beim Kiezdeutsch von einem neuen deutschen Dialekt, der „(…) – wie alle Dialekte – vom Standarddeutschen abweicht, aber hierbei besonders viele interessante neue grammatische Strukturen entwickelt, weil Kiezdeutsch durch den mehrsprachigen Kontext ein besonders dynamischer Dialekt ist.“
Sätze wie „Musstu Frisör!“ und „Machst du rote Ampel!“ werden hier also sprachwissenschaftlich untersucht und beleuchtet.
Umso mehr ich mich damit befasse und das Befremdliche dieser Sprache weicht, umso besser kann ich Professorin Wiese verstehen, wenn sie sagt: „Kiezdeutsch rockt, ischwör!“ Taucht doch mal ein!
Christine Wolter
staatl. gepr. Übersetzerin
Texte & Korrektorat