Wilde Philosophen oder kleine Forscher?
Unterrichtsangebote an deutschen Schulen
Schaut man sich die Internetauftritte von Gymnasien an, die ein Altsprachliches Profil innerhalb des klassischen Humanistischen Bildungsganges anbieten – in ganz Hamburg derer noch sieben -, bekommt man oftmals den Eindruck, sie würden sich im gleichen Atemzug für dieses Angebot entschuldigen. Denn selbstverständlich seien auch naturwissenschaftliche Schwerpunkte zu finden, neue Sprachen ab der 5. Klasse mit mindestens vier Wochenstunden dabei und produktive Kontakte zu technischen Universitäten brächten zukunftsweisende Farbe in den Schulalltag.
Szenenwechsel: Grundschule. Im Angebot der modernen Grundschule sind die „kleinen Forscher“ zu finden, die „Mathe-Spezialisten“, „Das Experiment des Monats“, stundenlange Besuche zu später Stunde in der technischen Universität (7-jährige Kinder sollen Uniluft schnuppern) und jede Menge Wettbewerbe in naturwissenschaftlichen Bereichen. Letztens habe ich meine Tochter in einem bodenlangen Laborkittel mit Reagenzgläsern in der Hand und Schutzbrille auf der Nase gar nicht erkannt.
Das Betrachten der großen Zusammenhänge, kritisches Denken, historisch-philosophische Betrachtungen, Werte, Ethik, Moral, die Fähigkeit, auf Lebensfragen Antworten geben, eine eigene Haltung zu Glaube und Religion finden … die Wichtigkeit all dieser und noch hundert weiterer, in der humanistischen Bildung verwurzelter Fähigkeiten, ist uns allen bewusst. Und doch gilt unsere ganze Aufmerksamkeit bereits in der 1. Klasse den Ergebnissen der Mathe- und Sachkundetests unserer Kinder. Und – wenn wir mal ganz ehrlich sind – soll auch unser Kind ein „kleiner Forscher“ werden und ein Date mit der Uni haben.
Damit wir nicht irgendwann in einer kritik- und wertfreien Gesellschaft versinken, die nur noch in physikalisch-mathematischen Zusammenhängen denkt und handelt, wären doch eigentlich „kleine Geschichtenerzähler“, „wilde Philosophen“ oder „Mini-Ethiker“ ganz gut. Wie immer ist auch hier die gesunde Mischung wünschenswert. So werden die Physiker von morgen das große Ganze nicht aus den Augen verlieren und weltweit bekannte Mathematik-Genies stabile Freundschaften haben. So oder so ähnlich könnte es sein. Doch noch interessieren sich Schulleitung und Behörden ausschließlich für die kleinen und großen Schildchen, die Schultore und Schulfassaden zieren und den Vorbeiziehenden mit naturwissenschaftlichen Schwerpunkten anlocken. Schade.
Christine Wolter | staatl. geprüfte Übersetzerin und Dolmetscherin | Korrektorat & Texte