Wenn Übersetzer Urlaub machen
Eigentlich habt ihr vor, ein paar Tage das zu machen, was gut 98 % der europäischen Bevölkerung macht: Sommerurlaub.
Eine gute Zeit, denkt der Übersetzerkopf. Viele Unternehmen gehen in den Slow-Motion-Modus über – Aufträge gibt es also sowieso nicht wie Sand am Meer.
Da sucht ihr euch den Sand lieber woanders.
Und je nachdem, ob schulpflichtige Kinder zur Übersetzer-Familie gehören, ist es auch angebracht, den AB anzuschalten und „Ich bin dann mal weg“ zu inszenieren.
Das Telefon klingelt. Ach, denkt ihr, da gehe ich noch mal ran. Mit dem Gedanken „Das kann ich schnell noch mal machen“ wird ein weiterer Übersetzungs-Auftrag für diesen Monat verbucht. Der unsicher gesprochene Satz „Auf die ein, zwei Tage kommt es nun auch nicht mehr an“ beruhigt die Familie und das eigene Gewissen.
Existieren keine schulpflichtigen Kinder, wiederholt sich die oben beschriebene Szene zwischen 3 und 300 Mal und der Urlaub wird um ein weiteres Jahr verschoben.
Beim Absenden der fertig gestellten Übersetzung erreichen euch zeitgleich gut gemeinte Anfragen von Übersetzerkollegen, die kurz vor ihrer eigenen Abreise in den Sommerurlaub stehen und noch schnell die Idee hatten, euch als Vertretung vorzuschlagen. Hier schafft ihr ein „Tut mir leid“, vertröstet die Kollegen aber mit eurem Rückreisedatum.
Dann kann es endlich losgehen. Während der Autofahrt informiert euch das Smartphone darüber, ob es Rückfragen zur kürzlich angefertigten Übersetzung gibt. Gibt es. Doch ihr schweigt, um atmosphärische Störungen im Auto zu vermeiden.
Im Urlaubsort angekommen wird das Apartment von der Familie bezogen, während ihr an der Rezeption leise nach einem W-LAN-Anschluss fragt.
Der Rest der Geschichte ist variabel.
Jobs, die ortsunabhängig sind, bergen zahlreiche Vorteile, aber eben auch Nachteile. Gekoppelt mit dem Status der Freiberuflichkeit, ist ein Abschalten nicht immer möglich. Doch Leidenschaft, positive Motivation und echtes Interesse an der Sache vermeiden Negativ-Gefühle und geben Raum für Akzeptanz. Bevor es also gar keinen Urlaub gibt, reist ihr lieber mit dem Laptop im Gepäck. Und die Kinder als zuverlässige Schutzvorrichtung sorgen dann für ein Halbtags-Abschalten.
Euch allen also eine schöne Ferienzeit und viele Grüße aus dem Ostsee-Urlaub!
Christine Wolter
staatl. gepr. Übersetzerin
Korrektorat & Texte