Skurriles mit Fragezeichen
Urban Legends – die neuen Großstadtmythen
Wer einen Hang zum Grotesken und Absurden hat, sollte nach urbanen Legenden forschen. Ob sie die Berliner S-Bahn, die New Yorker Geschäftswelt, die NASA oder die städtische Kanalisation betreffen – die Geschichten sind gut und oft ungemein spannend. Leichtgläubige Menschen, die zu Alpträumen neigen, sollten sich von den Urban Legends jedoch fern halten. Denn viele von ihnen sind durchaus mit Elementen aus dem Horror-Genre ausgestattet und die Frage nach dem Wahrheitsgehalt kann am Ende schon mal im Raum stehen bleiben. Die Labilität einiger Legenden-Leser wird in Usenet-Newsgroups deutlich, in denen lebhaft diskutiert wird, ob diese Geschichten wahr sind oder nicht. Der Wahrheitsgehalt wird meist damit, dass sie dem Freund eines Freundes passiert seien, garantiert. Der Hinweis ist so etwas wie das „Es war einmal …“ der Urban Legends, weshalb sie mitunter auch als FOAF-Tales (Friend of a friend’s tales) bezeichnet werden.
Einige Urban Legends bedurften bereits öffentlicher Richtigstellungen (z.B. die Legende um das Apple-Logo, die besagt, dass der angebissene Apfel Bezug auf den Tod des Computerpioniers Alan Turing nimmt, der sich mit einem vergifteten Apfel das Leben genommen hat). Andere werden im schummrigen Licht einer Eckkneipe erzählt und jeder darf nach dem letzten Glas Rotwein selber entscheiden, ob er der Geschichte Glauben schenken mag oder nicht. 1994 war die sogenannte Bielefeldverschwörung der absolute Renner.
Interessant ist, dass in unserer Kultur die Urban Legends als ein riesiger Quell der Oralität angesehen werden. So haben Internetredakteure des Goethe-Instituts in 19 Ländern urbane Legenden aufgespürt und festgestellt, dass die Motive von Land zu Land wiederkehrend sind und die Moral der Geschichten oft in einer Warnung vor Fremden, Exotischem oder den Schattenseiten der Innovationen gipfelt. So beschäftigen sich zum Beispiel die Menschen in Südkorea seit einigen Jahren mit der Frage, ob sie eventuell entführt werden, wenn sie ihren MP3-Player zu laut aufdrehen. Das Erfinden urbaner Geschichten als Mittel zum Zweck.
Christine Wolter
staatl. gepr. Übersetzerin
Texte & Korrektorat