Politikdolmetschen
Herausforderung Untertöne
„Wer zu viele Talente hat, geht zur UNO und wird Dolmetscher“, lästerte einst der Schauspieler Peter Ustinov über unseren Berufsstand. Und wo er Recht hat, hat er Recht: Dolmetscher müssen für die Ausübung ihrer Tätigkeit mit den vielseitigsten Talenten ausgestattet sein – und sie müssen hart arbeiten können. Besonders der Bereich des politischen Dolmetschens stellt Sprachmittler vor große sprachliche, thematische und inhaltliche Herausforderungen.
Die Beratungssäle der UNO oder der EU mit Entsandten aus aller Welt an den Tischen und vielen, vielen zu übersetzenden Dokumenten mit meist sperrigen Titeln benötigen Dolmetscher mit lückenlosen politischen, kulturellen und geschichtlichen Kenntnissen. Heute Sudan, morgen Ost-Timor, übermorgen Iran …. oder: Heute Energiepolitik, morgen Rechtsharmonisierung, übermorgen Landwirtschaftsskandale. All das muss einem Politikdolmetscher inhaltlich bekannt sein, denn was man nicht versteht, kann man nicht dolmetschen. Also werden vor jedem Einsatz Papierberge zur politischen Situation in den betroffenen Ländern gewälzt. Namen von Parteien, Verbänden und politischen Führern müssen gelernt und die verschiedenen Themen, welche von Regierungsbehörden und Organisationen international beackert werden, verstanden sein. Durch das Lesen von Dossiers, Berichten, Briefings und Abhandlungen versuchen Dolmetscher, sich auf den gleichen Wissensstand wie die Teilnehmer zu bringen. Doch die eigentliche Herausforderung beim Dolmetschen von politischen Veranstaltungen sind die Politiker selbst. Mehr als bei jedem anderen Fachgebiet ist hier das Dolmetschen der Unter- und Zwischentöne fundamental wichtig. Ist etwas ironisch gemeint? Wurde da nur aus Versehen genuschelt oder gibt es diplomatische Gründe für eine undeutliche Aussprache? Während des Dolmetschens muss die Botschaft des Redners analysiert und umgesetzt werden; gleichzeitig gilt es zu verstehen, wer dieser Mensch ist, in welcher politischen Lage er sich befindet und wie sein Verhältnis zu den anderen Gesprächsteilnehmern ist.
Bei einem Arbeitszimmertreffen im kleineren Kreis kommt es auch verstärkt darauf an, instinktiv zu erfassen, wie die Chemie zwischen den Teilnehmern ist. Kulturelle Eigenheiten müssen bekannt sein und im Laufe des Gespräches beachtet werden. In diesem Beziehungsgeflecht ist sich der Dolmetscher immer seiner vermittelnden Rolle bewusst. Der Dolmetscher als Person verschwindet und das Gehörte wird anschließend vertraulich behandelt. Ein Kollege von mir hat sogar von unterschiedlichen Grunzlauten eines Politikers erzählt, die je nach Grunztyp, Grunzlautstärke und Grunztonhöhe Zustimmung, Ablehnung, Freude oder Indifferenz ausdrückten. Politikdolmetscher – Menschen der großen Talente.
Christine Wolter | staatl. geprüfte Übersetzerin und Dolmetscherin | Korrektorat & Texte