Sprachverführung
Nicht nur Verliebte und Verlassene kennen es: Ein Song im Radio lässt uns aufhorchen, weil der Text das sagt, was wir fühlen. Wir lesen ein Buch und stoßen auf ein Zitat, das wir sogleich mit dem Textmarker verunstalten. Wir sehen einen Film und hören den Hauptdarsteller genau die Worte sagen, die wir schon immer dachten, aber nie zu sagen vermochten. Ein schönes Beispiel hierfür ist das in Fatih Akın’s Filmmärchen „Im Juli“ zitierte Gedicht, mit dem Moritz Bleibtreu seine Angebetete auf einer Brücke des Bosporus begrüßt: „Meine Herzallerliebste, ich bin Tausende von Meilen gegangen. Ich habe Flüsse überquert, Berge versetzt. Ich habe gelitten, und ich habe Qualen über mich ergehen lassen. Ich bin der Versuchung widerstanden, und ich bin der Sonne gefolgt, um dir gegenüberstehen zu können und dir zu sagen: Ich liebe dich.“
Das geht zumindest unter die weibliche Haut. Und natürlich klappt es auch mit den beiden auf der Brücke. Im Netz findet man zahlreiche – weibliche – Suchanfragen zu diesem Text.
Um mit Sprache verführen zu können, müssen wir uns zunächst von der Sprache verführen lassen. Und damit unsere Wahrnehmung für sprachliche Feinheiten geschärft wird, hat der Sprachwissenschaftler und Zeitungs-Redakteur Thomas Steinfeld den „Sprachverführer“ geschrieben, in dem der Autor die Fülle der deutschen Sprache feiert und dabei auf kulturpessimistische Darstellungen fast gänzlich verzichtet. Neben der historischen Entwicklung der deutschen Sprache werden auch Zitate aus der Weltliteratur beleuchtet. Stilkritik und Reflexion über den Umgang mit der deutschen Sprache werden von Steinfeld undogmatisch ausgeübt. Denn für Steinfeld ist Sprache immer dann schön, „ […] wenn man einen Menschen in ihr wahrnimmt.“ Individuell soll Sprache sein, spielerisch, ohne dabei jedoch die Bühne der sprachlichen Normierung zu verlassen.
Der Sprachverführer soll uns verführen. Vielleicht verführen wir anschließend mit unserer Sprache, in der uns der Mensch wahrnimmt. Ob auf einer Brücke oder nicht.
(Thomas Steinfeld: »Der Sprachverführer. Die deutsche Sprache: was sie ist, was sie kann.« Hanser-Verlag München)
Christine Wolter
staatl. gepr. Übersetzerin
Texte & Korrektorat